Der Jungbullen-Fall (Classics #1)

Recht Kreativ
4 min readJun 10, 2024

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BGH, Urteil vom 11.01.1971 — VIII ZR 261/69, BGHZ 55, 176

Es war einmal der bescheidene Bauer Bertram, der zwei prächtige Jungbullen sein Eigentum nannte. Eines Tages verschwanden die Jungbullen. Bertram suchte sie überall, fand sie aber nicht.

Der gierige Ganove Gunther hatte sie dem Bertram in der Nacht heimlich gestohlen. Gunther zog mit ihnen durch die Lande und verkaufte die ängstlichen Jungbullen schließlich an den gutgläubigen Wurstfabrikanten Waldemar für 100 Goldtaler.

Waldemar, stolz ein so gutes Geschäft gemacht zu haben, verwertete die beiden Jungbullen sogleich in seiner Fleischwarenfabrik zu leckeren Thüringer Rostbratwürstchen im Wert von 200 Goldtaler.

Doch es dauerte nicht lang, da kam der immer noch wütende Bertram dem Ganoven Gunther auf die Schliche. So kam es, dass er eines Tages an der Tür des Waldemar klopfte und entrüstet Wertersatz für seine liebsten Tierchen verlangte. Zu Recht?

Die Rechtslage

Schaubild Rechtslage

Wer ist Eigentümer?

Ursprünglich war Bertram Eigentümer der Jungbullen (vgl. § 1006 BGB). Gunther konnte durch den Diebstahl natürlich kein Eigentum erwerben.

Waldemar könnte allerdings durch das Rechtsgeschäft mit Gunther Eigentümer der (damals noch lebenden) Jungbullen geworden sein. Ein gutgläubiger Erwerb nach §§ 929 S. 1, 932 I S. 1 BGB scheitert jedoch an § 935 I S. 1 BGB. An gestohlenen Sachen kann nicht gutgläubig Eigentum erworben werden.

Nun gibt es die Jungbullen nicht mehr, denn sie wurden durch Waldemar zu Fleisch verarbeitet. Dieser wurde daher im Wege des § 950 I BGB durch die Verarbeitung Eigentümer der Würstchen. Gemäß § 950 II BGB erlöscht im gleichen Zuge das alte Eigentumsrecht des Bertram an den alten Jungbullen.

Kurzer Einschub zum EBV

Zeitlich zwischen Übergabe der Jungbullen an Waldemar und der Verarbeitung dieser zu Wurst bestand zwischen Bertram und Waldemar ein Eigentümer-Besitzer-Verhältnis (§ 985 BGB). Hieraus könnten Bertram natürlich etwaige Ansprüche entstanden sein:

  • Nutzungsersatz (§§ 987 I, 990 BGB) kommt nicht in Betracht, da die Verwertung der Bullen keine Nutzung iSd. § 100 BGB ist, denn der Vorteil wird hier nicht aus dem Gebrauch der Sache, sondern aus der Sache selbst erziehlt.
  • Schadensersatz (§§ 989, 990 BGB) kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil Waldemar gutgläubig hinsichtlich des eigenen Rechts zum Besitz war.

Im Übrigen versperrt § 993 I Hs. 2 BGB sonstige Nutzungs- oder Schadensersatzansprüche des Bertram.

§ 951 BGB: Verweis auf die §§ 812 ff. BGB

Weiter auf der Suche nach einem Anspruch gegen den frisch gemachten Eigentümer Waldemar wird man dann hoffentlich in § 951 BGB fündig. § 951 I S. 1 BGB besagt, dass Bertram von Waldemar Vergütung in Geld (sprich Wertersatz) nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts (§§ 812 ff. BGB) fordern kann.

Kleiner Einschub zum Telos des § 951 BGB: Der § 951 BGB ist sozusagen ein Vindikationsersatz. Anstelle des § 985 BGB bekommt der ehemalige Eigentümer den Wert über das Bereicherungsrecht zurück. Es handelt sich somit um einen sog. Rechtsfortwirkungsanspruch.

Kleiner Nachtrag zum EBV: Die Sperrwirkung des EBV bezieht sich richtigerweise auf Nutzungs- und Schadensersatzansprüche (siehe § 993 I Hs. 2 BGB). Aber Vorsicht! Bertram begehrt Wertersatz. Der sachliche Anwendungsbereich des EBV bezieht sich nicht auf Wertersatzansprüche und entfaltet daher auch keine Sperrwirkung hinsichtlich § 951 iVm. §§ 812 ff. BGB.

§ 951 I S. 1 BGB ist also eine Rechtsgrundverweisung in das Bereicherungsrecht:

Vorrang der Leistungsbeziehung?

Kondiktionsgegenstand ist das Eigentum am Fleisch, die Jungbullen gibt es ja nicht mehr. Dieses Fleisch hat Waldemar jedenfalls nicht durch Leistung von Bertram erlangt. In Betracht kommt insoweit eine Nichtleistungskondiktion.

Aber halt! Wer etwas egal von wem durch Leistung erlangt hat, kann nicht zugleich in sonstiger Weise auf Kosten eines anderen ungerechtfertigt bereichert sein. Hat der Ganove Gunther also an Waldemar geleistet, versperrt dies eine Nichtleistungskondiktion durch Bertram (sog. Vorrang der Leistungsbeziehung).

Und an dieser Stelle muss man nun präzise sein: Gunther hat an Waldemar lediglich den Besitz der Jungbullen (nicht das Eigentum) geleistet. Das Eigentum am Fleisch hat sich Waldemar sozusagen selbst durch die Verarbeitung geschaffen!

Ein Kondiktionsanspruch des Bertram ist also nicht durch eine vorrangige Leistungsbeziehung gesperrt.

Der Kondiktionsanspruch gegen Waldemar

Der Anspruch aus § 812 I S. 1 Var. 2 BGB begründet sich also im Einzelnen folgendermaßen:

1. Etwas in sonstiger Weise erlangt

Waldemar erlangte das Eigentum an den Fleischwaren auf sonstige Weise (nicht durch Leistung), und zwar auf Kosten des Bertrams, der infolge der Verarbeitung das Eigentum an den Jungbullen verlor (siehe § 950 II BGB).

2. Ohne Rechtsgrund

Der Erwerb muss rechtsgrundlos geschehen sein. Der § 950 BGB stellt keinen Rechtsgrund dar, sondern will lediglich die Eigentumslage regeln. Andernfalls wäre ein Verweis auf die §§ 812 ff. BGB durch § 951 BGB sinnlos. Auch der Kaufvertrag mit Gunther stellt für Waldemar keinen Rechtsgrund gegenüber Bertram dar (Relativität der Schuldverhältnisse).

3. Rechtsfolge, § 818 BGB

Waldemar hat schließlich grundsätzlich nach § 818 II BGB Wertersatz zu leisten. Er könnte nun in Höhe des an Gunther gezahlten Kaufpreises gemäß § 818 III BGB entreichert sein.

Und an dieser Stelle kommt wieder der oben erläuterte Telos des § 951 BGB ins Spiel: Denn Der Bereicherungsanspruch des ehemaligen Eigentümers tritt ja im Grunde an die Stelle des ursprünglichen Herausgabeanspruchs aus § 985 BGB (sog. Rechtsfortwirkungsanspruch).

Der BGH nimmt sodann eben darauf Bezug und argumentiert: Der Herausgabepflicht aus § 985 BGB hätte Waldemar den an Gunther gezahlten Kaufpreis nicht entgegenhalten können. Daher soll das bei § 951 BGB auch nicht möglich sein.

Ansprüche gegen Gunther?

Durch Bertram nicht eingeklagt, aber entstanden waren auch Schadensersatzansprüche gegen den Ganoven Gunther: Aus EBV (§§ 989, 990 I S. 1 BGB), aus Deliktsrecht (§ 992 iVm. § 823 I, II BGB) und angemaßter Eigengeschäftsführung (§ 687 II S. 1 iVm. § 678 BGB).

Auch Waldemar hat gegen Gunther Schadensersatzsprüche aus Vertrag und Delikt.

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